Leseprobe: Verborgene Gänge
1
Der Stein
Mit ihrer geballten Kraft scheint die Sonne von einem wolkenlosen Himmel auf Land und See. Sogar die Quecksilbersäule eines im Schatten aufgehängten Thermometers hat fast das Ende seiner Anzeigemöglichkeit erreicht. Obwohl es Ferienzeit ist, die Hotels ausgebucht sind, befinden sich nicht allzu viele Menschen am Strand des kleinen Badeortes an der türkischen Riviera. Den meisten Touristen und auch den Einheimischen ist es zu heiß. Diejenigen, die sich aus den klimatisierten Gebäuden herauswagen, suchen Schatten unter Sonnenschirmen oder Sonnensegeln. Einige sitzen unter weinbehangenen Pergolen kleinerer Restaurants und genießen kalte Getränke.
Ein braun gebrannter hochgewachsener junger Mann schlendert am Strand entlang. Seine Füße werden von den auflaufenden kleinen Wellen umspült. Ein leichtes Rauschen liegt in der Luft. Die Sonne und die Wärme scheinen ihm nichts auszumachen. Den Kopf leicht gesenkt, betrachtet er den Boden vor sich, der mit unzähligen rundgewaschenen Kieselsteinen übersät ist. Der leichte Seewind weht ihm die glatten, mittelblonden Haare über die hellblauen Augen. Gedankenverloren streicht er sie an die Seite. Er bleibt stehen, bückt sich und nimmt einen der herumliegenden flachen Steine auf, der gerade noch in seine Hand passt. Er blickt auf das Wasser, dann mit einer kurzen heftigen Handbewegung schleudert er den Stein in einem flachen Winkel auf die Wasseroberfläche. Der Stein hüpft einige Male über das Wasser, bis er in eine Welle hineintaucht und verschwindet. Die blauen Augen blitzen. Es macht ihm offensichtlich Spaß.
Der Strand ist nicht sehr breit. Er wird eingerahmt von einer schmalen und liebevoll hergerichteten, z. Zt. menschenleeren Promenade. Der mit Verbundsteinen belegte Weg ist eingefasst von Palmen, kleinen Bäumen und Büschen, die aufgrund der Trockenheit von den Arbeitern des Badeortes fleißig bewässert werden.
Hinter einigen Büschen am Ende der Promenade kauern zwei Gestalten. Ihre Augen lösen sich nicht eine Sekunde von dem jungen Mann, der ihnen langsam näherkommt. Sie sind, trotz der hohen Temperaturen, in wärmende Kleidungsstücke gehüllt. Einer von ihnen fast sich mit dem Zeigefinger zwischen Kragen und Hals. Kleine Rauchwolken bahnen sich daraufhin den Weg nach draußen. Er schüttelt sich, so als wenn er frieren würde, und flüstert: „Gleich hat er ihn; dann können wir ja unseren nächsten Auftrag erledigen.“ Er atmet tief durch.
Der so beobachtete blonde Mann bleibt plötzlich stehen. Sein Blick fokussiert sich auf eine Stelle im Sand, die etwa noch drei Meter von ihm entfernt ist. Zwischen all den Kieseln haftet sein Blick auf einem im Durchmesser etwa 6 cm großen flachen Stein. Merkwürdig denkt er sich, warum interessiert mich ausgerechnet dieser Stein, zwischen den Tausenden und Abertausenden von Steinen hier am Strand? Er geht näher an das Objekt heran. Mit einem Lächeln nimmt er zur Kenntnis, dass der Stein gleichmäßig abgeschliffen ist und zugleich ein schönes Muster trägt. Er murmelt: „Da haben wir auch schon den Grund, warum er mir geradezu ins Auge gesprungen ist.“ Er bückt sich und hebt ihn auf, hält ihn mit einer Hand vor die Augen, wobei er aufmerksam die brandroten Wellenlinien betrachtet, welche den flachen, fast kreisrunden Stein zieren. In der Mitte des Steins befindet sich ein roter, etwa daumennagelgroßer, makelloser runder Kreis. Die roten Linien werden von dem Kreis, wie die Strahlen einer Sonne abgeschickt. Bis auf eine erreichen die Wellenlinien nicht den gerundeten Rand des Steines. Sein Blick verfolgt die Wellenlinie, die über den Rand zu laufen scheint. Neugierig will er den Stein wenden, um zu sehen, wie es auf der Rückseite weitergeht, da bekommt er einen Stoß in den Rücken. Der Stein fällt ihm aus der Hand, und er verliert das Gleichgewicht.
Der Stein
Falk, so heißt der junge Mann, stolpert einige Schritte und stürzt ins Wasser. Als sein Kopf die Wasseroberfläche wieder erreicht, prustet er, da ihm das Wasser in den offenen Mund gelaufen ist. Es scheint ihm nicht zu schmecken, daher verzieht er sein Gesicht und hustet ein wenig. Er steht auf, schüttelt sich und blickt auf 3 Jungs, die sich breitbeinig vor ihm aufgebaut haben. Sie sind etwa in seinem Alter und einen Kopf kleiner als er. Man sieht ihnen an, dass sie körperlich voll fit sein müssen, denn alle drei sind für ihr Alter recht ordentlich mit Muskeln bepackt.
„He! Was soll das denn?“ Kopfschüttelnd hört er zu, wie sich die drei vor ihm aufgeregt unterhalten. Er versteht hin und wieder das eine oder andre türkische Wort, das er sich in Deutschland bei seinen türkischen Klassenkameraden angeeignet hat. Nur so viel kann er erkennen, dass es sich um ihn handeln muss. Aber dafür braucht er wiederum keine türkischen Sprachkenntnisse, sagt er sich. Es ist offensichtlich, dass sie es auf ihn abgesehen haben.
Drohend rückt die kleine Gruppe noch näher an ihn heran. Falk ist zwar nicht sehr ängstlich, aber mit drei Jungs von dieser Sorte wollte er es auch nicht unbedingt aufnehmen. Auweia, das wird wehtun, sagen ihm seine Gedanken. Sein Gesicht legt sich in Sorgenfalten. Wenn er nur wüsste, was los ist?
Der größere Junge, er scheint auch der zu sein, der das Sagen hat, öffnet den Mund und spricht Falk in Deutsch an: „Glaubst du, dass du allein auf der Welt bist? Benimmst du dich immer so?“ Während er spricht, hält er sich mit der linken Hand seinen Kopf, während seine rechte Hand mit dem Zeigefinger auf die bewusste Stelle zeigt. Zwischen den Fingern zeigt sich Blut. Falk bemerkt es und er hat auch schon einen Verdacht. Die Sorgenfalten in seinem Gesicht vertiefen sich noch ein wenig mehr. Der Junge vor ihm fällt auf die Knie. Falk ahnt, dass er der Verursacher der Wunde ist. Er denkt an den Stein, den er in das Wasser geworfen hatte. Bestimmt war er nicht aufmerksam genug gewesen. Die Jungs vor ihm haben sich wohl im Wasser aufgehalten und da er so in Gedanken versunken war, einfach nicht bemerkt.
Er fragt den knienden Jungen: „War ich das?“ Fragend schaut er ihn an. Der nickt vorsichtig mit dem lädierten Kopf.
Einer seiner Freunde will Falk wegschubsen. Mit einer Handbewegung unterbindet das aber der Verletzte.
Falk fasst die Hand des knienden Jungen und hebt sie von der Wunde weg. „Gott sei Dank“, murmelt er, „das ist ja noch einmal gut gegangen. Durch das Wasser sieht es immer schlimmer aus, als es ist.“
„Du hast gut reden“, mault der verletzte Junge, „mir tut es weh und du sagst, dass das alles nicht so schlimm ist.“
„Ich habe ja auch nur gemeint, dass es keine sehr gefährliche Wunde ist. Dass es wehtut, das glaube ich dir absolut und es tut mir wirklich leid.“ Falk schaut den Jungen an: „Entschuldige bitte, ich werde das nicht mehr machen. Es ist einfach zu gefährlich, was ich da getan habe. Ich bin ein Idiot.“
Da lacht sein Gegenüber gequält auf: „Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung.“ Dann hält er sich wieder den Kopf und stöhnt leicht.
Falk lacht auch ein wenig. Seine Augen blicken aber besorgt auf den Verletzten, als er fragt: „Wollen wir nicht zu einem Arzt oder in die Poliklinik oben auf der Hauptstraße gehen?“
„Nein, davon werde ich nicht sterben, wie du schon richtig gesehen hast. Ich besorge mir ein Pflaster.“
Die zwei anderen schauen irgendwie ratlos auf die beiden vor ihnen, die sich gar nicht streiten. Sie hatten wohl erwartet, dass es zumindest eine mündliche Auseinandersetzung gibt. Mit einer Entschuldigung und dem Eingeständnis des Steinewerfers, dass er ein Idiot ist, hatte keiner von ihnen gerechnet.
Mit traurigem Gesicht sagt Falk: „Also, ich kann nur wiederholen, es tut mir wirklich sehr leid. Ich habe noch einige türkische Lira in meiner Badehose stecken und möchte meine Dummheit mit einem Getränk, dort drüben in dem Restaurant ein klein wenig ausgleichen.“ Seine Hand zeigt in die entsprechende Richtung.
Als der Verletzte nickt, stimmen auch die anderen beiden zu. Ihre noch drohende Haltung entspannt sich merklich.
Falk bemerkt das und sagt sich, dass er gerade Mal so um eine handfeste Auseinandersetzung herumgekommen ist. Aber, es war auch wirklich dumm von ihm gewesen, das hätte böse enden können. Glück gehabt. Er zieht die Meeresluft tief in seine Lungen hinein. Zusammen gehen sie durch den Sand, der glühend heiß wird, als sie den näheren Bereich des Wassers verlassen. Sie überwinden eilig die paar Meter bis zur Promenade.
Die beiden Gestalten, die Falk beobachten, werden nervös, als sie sehen, dass sich die Situation anders entwickelt, als sie vorausgesehen haben. Sie machen sich ganz klein hinter den Büschen, als die Gruppe vom Strand direkt auf sie zukommt. Der Rauch, der ihnen dabei aus dem Kragen dringt, verstärkt sich. Sie wedeln mit ihren Händen, um ihn zu verteilen.
Aufatmend stehen die Jungs im Schatten eines kleinen Baumes. „Ganz schön heiß in der Sonne“, meint Falk und schaut sich noch einmal in Ruhe die Wunde an, die er dem Jungen zugefügt hat. „Es hat zwar aufgehört zu bluten, aber vielleicht ist es doch besser, wenn du es versorgen lässt“, sagt er nachdenklich. „Wie heißt du eigentlich? Ich bin der Falk“, er reicht seine Hand in Richtung des anderen Jungen. „Aber sag mal“, er hebt seine Nase und schnüffelt, „riecht es hier nicht verbrannt?“
Sein Gegenüber nimmt die Hand und drückt sie fest: „Ich heiße Kenan und das sind meine Brüder Musa und Murat“, wobei seine Hand auf seine beiden jüngeren Brüder zeigt. Sie werden wohl so um die 9 bis 11 Jahre alt sein. „Ich rieche nichts.“ Er schnuppert ebenfalls mit der Nase. „Hier liegt eigentlich immer so ein leichter Brandgeruch in der Luft. Es wird viel gegrillt und an offenen Feuern gekocht. Dann lasst uns jetzt in das Restaurant gehen. Ich glaube, das haben wir uns verdient. Außerdem kenne ich den Besitzer, der hat bestimmt ein Pflaster.“
Zusammen gehen sie die Promenade entlang. Hinter ihnen löst sich aus dem Buschwerk eine Wolke, die langsam nach oben steigt und ein wenig an ein Indianerrauchzeichen erinnert. Nach kurzer Zeit haben sie das Restaurant erreicht. Es ist total leer. Kein Mensch sitzt an den Tischen. Zwei Kellner stehen gelangweilt herum und springen sofort auf, als es sich die kleine Truppe an einem Tisch bequem macht. Jeder bestellt sich eine eiskalte Cola. Kenan fragt den Kellner, ob Ali Bey anwesend ist. Der Kellner bejaht.
Wie aufs Stichwort erscheint der Besitzer des Lokals. Er sieht Kenan und kommt auch sogleich mit einem freundlichen Lächeln an den Tisch. „Na Kenan, ich freue mich, dass du mich besuchst, was machen deine Eltern? Halt, was ist mit deinem Kopf?“ Besorgt schaut er Kenan an.
Der winkt ab und sagt: „Bin beim Spiel unglücklich mit dem Kopf auf einen Stein gefallen. Hast du zufällig ein Pflaster?“
„Klar habe ich das mein Junge. Einen Augenblick.“ Er steht auf und geht in das kleine Restaurantgebäude zurück.
In der Zwischenzeit klärt Kenan Falk darüber auf, was er seinem Onkel, er ist der Bruder seines Vaters, gesagt hat. Er bittet auch seine Brüder, es bei dieser Darstellung zu belassen.
Sein Onkel kommt zurück. In der einen Hand hält er Schere und Pflaster, in der anderen Hand eine Flasche mit klarem Inhalt.
„So, mein lieber Neffe, jetzt brennt es ein wenig. Ich reinige den kleinen Riss mit Raki, dann kommt das Pflaster drauf und du dürftest wieder gesund sein.“
Gesagt getan, Kenan stöhnt ein wenig, als sein Onkel mit einem Tuch die Wunde säubert. Als das Pflaster aber an Ort und Stelle ist, geht es ihm gleich besser. Mit Genuss trinkt er in einem langen Zug sein Glas leer. Er stellt noch seine neue Bekanntschaft aus Deutschland vor. Ali heißt ihn herzlich willkommen. Er kann auch ganz gut deutsch reden. Er war einige Jahre in Deutschland und hat dort in einer Fabrik gearbeitet.
Kenan bedankt sich bei seinem Onkel für die Versorgung der kleinen Wunde. Sie stehen auf und verlassen das Lokal. Beim Hinausgehen fragt Kenan: „Falk, wo wohnst du eigentlich und wie lange bleibst du noch hier?“
„Wir wohnen im Sultan Club. Dort haben wir ein kleines Ferienhaus. Knapp eine Woche sind wir jetzt hier und bleiben noch 2 Wochen. Meine Eltern und meine beiden Schwestern sind heute nach Pamukkale gefahren. Ich hatte keine Lust. Ich durfte hierbleiben. Vielleicht hätte ich besser mitfahren sollen, dann wäre das mit dir nicht passiert.“ Er zeigt auf die Wunde am Kopf von Kenan.
Der winkt ab: „Jetzt vergessen wir das. Ich habe dich dadurch kennengelernt. War zwar ein bisschen schmerzhaft, aber du gefällst mir. Sehen wir uns wieder? Ich muss jetzt leider mit meinen Brüdern nach Hause. Wir sind auch in den Ferien hier. Wir wohnen in unserm Haus und bleiben bis zum Ende der Sommerferien. Also, noch ungefähr viereinhalb Wochen.“
„Bestimmt sehen wir uns wieder. Den Tag vergesse ich so schnell nicht. Ich gebe dir das Kompliment zurück. Du gefällst mir auch. Auch deine Brüder. Du bist wenigstens nicht so wehleidig, wie einige andere die ich kenne. Das, was mir heute mit dir passiert ist, hätte sich woanders wahrscheinlich zu einer Katastrophe ausgeweitet. Noch einmal danke, besucht mich im Sultan Club. Wir wohnen im Haus Nr. 43. Seid ihr schon einmal dort gewesen?“ Er wartet gar nicht erst auf eine Antwort und redet gleich weiter: „Im Club gibt es eine Reihe von Attraktionen, die euch bestimmt Spaß machen dürften.“ Er schaut die drei vor ihm fragend an. „Abgemacht?“
Die Jungs hauen auf seine ausgestreckte Hand und gehen dann die Promenade hinunter. Falk bleibt stehen und blickt hinterher. Nach ca. 50 Metern drehen sie sich um, heben kurz die Hand zu einem letzten Gruß und verschwinden rechts in einem kleinen Pfad.
Falk geht zurück zum Sultan Club. Sein Bedarf an Abenteuern ist erst einmal gedeckt. Er erreicht das Ende der Promenade und läuft schnell über den heißen Sand zum Wasser.
Hinter den Büschen kauern immer noch die beiden so merkwürdig dampfenden Gestalten. Glühende Augen, die unter den über den Kopf gezogenen Kapuzen hervorlugen, verfolgen jede seiner Bewegungen. Eine der beiden Figuren hält eine kleine goldene Kugel in ihrer Hand, die auf Falk ausgerichtet ist.
Falk beugt den Oberkörper und will ihn aufheben. Er zuckt zurück. Haben ihn seine Augen getäuscht oder hat sich der Stein bewegt? Er sagt laut und vernehmlich, das Rauschen des Wassers übertönend: „Die Sonne scheint dir doch tatsächlich das Gehirn ausgetrocknet zu haben.“ Dann greift er beherzt zu. Seine Wahrnehmung scheint sich tatsächlich zu bestätigen. Er ist sich sehr sicher, dass er den Stein nicht aufgenommen hat, sondern der Stein in seine Hand gehopst ist. Sehr genau schaut er ihn sich von allen Seiten an. Ruhig und vor allen Dingen bewegungslos liegt er in seiner Hand. Nach kurzer Zeit der Betrachtung, der Stein mach keinerlei Anstalten sich zu bewegen, steckt er ihn in die Tasche seiner Badehose.
Kopfschüttelnd geht er am Strand in Richtung seiner Unterkunft. Er redet laut mit sich selbst: „Ich glaube, meine Mutter hat doch recht. Ich muss ein wenig mehr schlafen. Meine Sinne sind nicht mehr ganz beieinander. Erst werfe ich jemanden fast ein Loch in den Kopf und dann denke ich, dass sich ein Stein bewegt. Ruh’ dich lieber ein wenig aus, morgen sieht das alles bestimmt anders aus.“ Grinst vor sich hin, während seine Füße durch das Wasser tapsen.
Tiefes Aufatmen hinter den Büschen unterstützt durch eine Rauchwolke, die dem blauen Himmel entgegenstrebt.
2
Frühstück
Es ist kühl. Jedenfalls kommt das den meisten Frühaufstehern im Sultan Club so vor, obwohl das Thermometer bereits schon über 22° Grad Celsius anzeigt. Auch Falk genießt die frische Luft auf der großen Terrasse. Sein Blick wandert über die herrliche Bucht, welche sich vor seinen Augen ausbreitet. Der tiefblaue Himmel umarmt das blaugrüne Meer. Kleine Wellen schlagen auf den Strand. Einige wenige Möwen ziehen kreischend ihre Kreise über das Wasser. Schön ist es hier.
Er gehört zu den Menschen, die nur müde sind, wenn sie morgens in die Schule müssen. In den Ferien ist es genau umgekehrt. Fast jeden Tag muss er sich entsprechende Bemerkungen von seinem Vater und hin und wieder auch von seiner Mutter anhören. Manchmal fragt er sich, ob das denn so schwer zu verstehen ist. Die haben sich früher, als sie klein waren, bestimmt auch nicht anders verhalten, denkt er sich. Schade, dass er keine Oma und keinen Opa hat. Die sind leider schon gestorben, als er noch ein Baby war. Er hätte sie bestimmt gefragt, was seine Eltern gemacht hatten, als sie noch zur Schule gingen. Er seufzt, zieht seine Schultern hoch und lässt sie wieder nach unten fallen.
In diesem Augenblick tritt seine Mutter auf die Terrasse. Lächelnd fragt sie: „Na mein lieber Sohn, Sorgen?“
„Nein Mama, habe ich eigentlich nicht“, antwortet er.
Sie lacht: „Und uneigentlich?“
Falk lacht auch: „Ich habe nur an die Schule und an das Aufstehen gedacht“, erwidert er wahrheitsgemäß.
„Tatsächlich Falk, das sind große Sorgen. Oder?“
„Ach wo“, er verbessert sich jedoch schnell, „stimmt, hast recht, große Sorgen.“
Beide grinsen sich an und decken gemeinsam den Tisch für die gesamte Familie. Alsbald strömt herrlicher Tee- und Kaffeeduft über die Terrasse. Nach einer kurzen Weile tauchen seine beiden kleineren Schwestern und zum Schluss mit zerzausten Haaren sein Vater auf. Alle scheinen das späte Aufstehen richtig zu genießen. Fröhliches Gequatsche vermischt sich mit dem leichten Rauschen des Meeres.
Während des Frühstücks wird gescherzt und gelacht. Zu Hause ist alles viel stressiger. Wie bei vielen anderen Familien auch, sind die Eltern aus finanziellen Gründen darauf angewiesen, dass beide arbeiten. Bevor sie ihre jeweiligen Arbeitsstellen aufsuchen, müssen jedoch ihre Kinder versorgt und zur Schule gebracht werden. Falk fährt bei gutem Wetter mit seinem kleinen Motorroller oder manchmal auch mit seinem Fahrrad zur Schule. Da die Mutter halbtags arbeitet, ist sie am frühen Nachmittag, wenn die Kinder aus der Schule kommen, zu Hause. Mit drei Kindern ist das zwar alles nicht so einfach. Aber irgendwie klappt immer alles, wenn auch nicht so, wie man sich das wünschen würde. Aus diesem Grunde sind alle so froh über die gute Stimmung.
Auch Falk findet, dass die Stimmung wirklich gut ist und hofft, dass es auch so bleibt. Er will sich auf jeden Fall anstrengen und somit das Seinige dazu beitragen. Gerade als er genussvoll in sein Brötchen beißt, bleibt sein Auge auf der sich langsam öffnenden Hand seiner kleinen Schwester Cindy hängen. Achtlos lässt sie den Stein, den er gefunden und mitgebracht hatte, auf den Tisch fallen und greift mit beiden Händen nach einem Stück kalter Wassermelone. Sie beißt hinein und der Saft rinnt ihr aus dem Mund über die Hände auf den Tisch.
„Aber Cindy, was habe ich Dir denn gesagt.“ Die Mutter steht auf und wischt mit einer Serviette Cindy den Mund ab. Falk greift über den Tisch und nimmt sich den Stein und will ihn in seine Tasche stecken. Wieder kommt es ihm so vor, als wenn der Stein in seine Hand gehüpft ist. Natürlich wird seine Aktion nicht nur von seiner kleinen Schwester bemerkt, sondern der ganze Tisch ist aufmerksam geworden.
Cindy fängt sofort an zu schreien: „Gib mir meinen Stein wieder.“ Sie wiederholt, während ihre Stimme weiter anschwillt: „Gib mir meinen Stein wieder. Er gehört mir.“
Falk schüttelt mit dem Kopf und will etwas sagen, kommt aber nicht zu Wort. Cindy Stimme schwillt weiter an. Falk sagt sich, dass sie für ihr Alter wirklich ein Stimmwunder ist.
Der Vater wird nervös und bittet um Ruhe, was, wie sollte es auch anders sein, nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt. Cindy strengt sich richtiggehend an die Lautstärke ihres Schreiens noch einmal zu steigern. Es gelingt ihr tatsächlich. Jetzt wird es den Eltern doch zu bunt. Der Vater schlägt auf den Tisch, Mutters Augen blitzen wütend ihren Sohn Falk an.
„Sag mal du großer Mann, warum kannst du deiner kleinen Schwester nicht den blöden Stein lassen. Wenn sie ihn gefunden hat, dann gehört er ihr auch. Musst du sie denn unbedingt ärgern.“
Falk gibt sich wirklich Mühe ruhig zu bleiben und nicht ärgerlich zu reagieren. Aber Cindy beginnt, als würde sie auf einer Bühne stehen, fast künstlerisch und herzzerreißend zu schluchzen. Nicht zu glauben, denkt er sich, was für eine schauspielerische Glanzleistung. So macht sie das immer, seit sie irgendwann einmal festgestellt hatte, dass sie mit diesem Verhalten durchkommt. Sie ist halt die Kleinste und der lässt man immer etwas mehr durchgehen. Er seufzt vernehmlich.
„Also Falk, was ist, gibst du ihr jetzt endlich den Stein zurück? Ich hatte dich immer für klüger gehalten. Und du bist ja in deinem Alter schon ein Mann. Sechzehn Jahre bist du mittlerweile. Warum willst du denn deiner kleinen Schwester nur den Stein abnehmen? Ich verstehe dich ehrlich gesagt nicht.“ Kopfschüttelnd schaut sein Vater ihn an.
Falk ist sauer. Dies sieht man ihm auch an. Sein Blick wandert von einem zum anderen, verweilt einen Augenblick bei seiner greinenden Schwester und endet bei seinem Vater. Dann sagt er deutlich und selbstbewusst: „Selbst wenn ich der Ältere bin, habe ich auch Rechte. Eines meiner Rechte ist bestimmt, dass ich dazu etwas sagen darf. Ich sitze hier und höre nur Gebrüll, alle sind nervös, alle schauen mich böse an und keiner fragt mich. Außerdem musste ich nicht unbedingt mit dieser Reaktion meiner kleinen Schwester rechnen.“
Cindy hört nicht auf zu nörgeln. Dem Vater reicht es jetzt. Er fordert Cindy auf, sofort das Weinen einzustellen. Er will wissen, warum Falk so reagiert hat. Cindy hört tatsächlich auf. Hin und wieder hört man noch einen kleinen Schluchzer.
Falk erzählt, wie er zu dem Stein gekommen ist und über die Bekanntschaft mit den drei Jungen. Bei seiner Erzählung lässt er jedoch das Steinewerfen aus. Er wollte den Stein eigentlich behalten, weil er ein so schönes Muster hat.
Cindy jault richtiggehend auf, als Falk erzählt, wo er den Stein am Strand gefunden hat und dass er ihn in seiner Badehose vergessen hat, die noch im Badezimmer liegen müsste. Sie stampft mit ihren Füßen auf dem Boden und ruft: „Er lügt, er lügt, ich habe den Stein geschenkt bekommen.“
Die Runde am Tisch schaut sich ratlos an. Zögernd ergreift die Mutter das Wort: „Ich weiß nicht, das kommt mir alles wirklich sehr merkwürdig vor. So eine Aufregung wegen eines, zugegebenermaßen schönen Steines.“ Sie betrachtet das auf dem Tisch liegende Corpus Delicti und sagt: „Schön aber ist das die Aufregung wert? Mein Großer, gib doch deiner Schwester den Stein.“
Cindy freut sich und rutscht vergnügt auf ihrem Stuhl hin und her.
Lydia tut ihr Bruder leid. Mit ruhiger, ernsthafter Stimme sagt sie: „Das ist wirklich dumm mit dem Stein aber ich denke, dass es so auch nicht geht. Ich glaube Falk. Cindy soll nicht immer mit ihrem Weinen ihren Kopf durchsetzen. Wir leiden alle darunter.“
Cindy fängt wieder an zu weinen. Sie schimpft ihre Schwester: „Ich habe recht! Falk lügt, ich habe den Stein geschenkt bekommen. Warum glaubt mir denn keiner? Du bist böse Lydia.“ Sie schlägt mit ihrer kleinen Faust auf den Tisch, sodass das Geschirr scheppert. Lydia lächelt nur gequält.
Der Vater schaut in die Runde, die vor einigen Minuten noch so fröhlich war und jetzt völlig zerstritten ist. Die Stimmung ist total gekippt. Er wendet sich an seine Frau: „Sag bitte deiner Tochter, dass sie aufhören soll, herumzunörgeln. Es ist nicht auszuhalten. Sie soll bitte einmal erklären, wer ihr denn den verdammten Stein geschenkt hat. Vor allen Dingen wann hat sie ihn geschenkt bekommen?“
Die Mutter, Ruth Bergen, sieht ihren Mann ärgerlich an und mit gereizter Stimme sagt sie: „Wenn es brenzlig wird, dann ist es plötzlich meine Tochter, wenn sie lieb ist und schmust, dann ist sie dein Liebling. Ach, es ist nicht zum Aushalten.“ Sie wendet sich ihrer Tochter zu: „Also Fräulein, erzähle!“
Alle Blicke sind auf Cindy gerichtet.
*
Aus dem Balkonfenster im 1. Stock schauen zwei tiefrote Augen auf die streitende Familie. Ein weiteres Augenpaar gesellt sich dazu. Der hinzugekommene etwas kleinere junge Mann fragt: „Was machen wir Lehrmeister Aballa, wenn die Tochter des Lichts redet?“
Aballa sieht den Fragenden an und murmelt: „Petile, nur mit der Ruhe, kein Mensch wird ihr auch nur das Geringste glauben.“ Mit Nachdruck bestätigt er das eben Gesagte: „Und das kannst du mir glauben!“ Kleine Flammen züngeln dabei aus seinen Augen.
„Warum soll man ihr nicht glauben? Wir nehmen sie doch auch ernst.“
„Ach Petile, warum muss ich mich denn mit dir nur so abmühen. Die Tochter des Lichts ist hier bei den Menschen nur ein Kind. Das müsstest du eigentlich wissen.“ Kopfschüttelnd, dass dabei die Flammen nur so aus seinen Augen lodern, sieht er Petile an und redet weiter: „Außerdem hast du ihr den Stein ohne meine Zustimmung gegeben. Sie ist noch sehr jung und sollte vor allen Dingen den Stein selbst finden, damit wir sicher sein konnten, dass er sich in den richtigen Händen befindet. Aber lassen wir das jetzt. Ich denke, sie ist die Echte, da ihr Bruder zweifelsohne ein Sohn des Lichts ist. Ihre Kraft wird sich schon durchsetzen. Hoffe ich jedenfalls.“ Er blickt dabei an die Decke, verdreht seine flammenden Augen, dass aus ihnen das Feuer wie aus einem kleinen Springbrunnen herausspritzt. „Gebe es Vulkan.“
Petile blickt unter sich. Traurig murmelt er kaum verständlich vor sich hin: „Ich bin das erste Mal auf einer solchen Mission und kann daher auch nicht alles wissen. Und außerdem wäre es sehr schwer gewesen, die kleine Tochter des Lichts den Stein finden zu lassen. Wo hätten wir den Test denn machen können? Wir wussten doch, dass ihr Bruder ein Sohn des Lichts ist. Ich denke, dass es so besser und vor allen Dingen sicherer gewesen war. Wenn überhaupt, dann war es sicherlich nur ein kleiner Fehler.“ Er bestätigt sein leises Gemurmel mit einem kräftigen Nicken.
Aballa schlägt ihm leicht mit der Hand auf den Rücken, wobei kleine Rauchwölkchen aus seinem Ärmel aufsteigen: „Schon gut mein kleiner Lehrling, wenn ich ehrlich bin, war ich in deinem Alter wahrscheinlich auch nicht viel besser und was das kleine Mädchen angeht, will ich dir zugestehen, dass du durchaus richtig entschieden hast.“
Petile ist froh, dass sein Lehrmeister die Begebenheit nicht so schlimm bewertet. Um das Geschehen unter ihnen besser sehen zu können, drückt er sich näher an die Scheibe. Dabei berührt er die Gardine. Als Cindy anfängt zu weinen, weint er aus lauter Mitgefühl mit. Seine Tränen bestehen jedoch aus kleinen Feuerklümpchen, die an dem Vorhang herunterkullern. Augenblicke später ist das Fenster in lodernde Flammen gehüllt.
„Was soll ich denn nur mit dir machen, du Tollpatsch? Wie oft habe ich dir gesagt, vor jeder Tätigkeit und vor allen Dingen vor dem Denken sollst du dein Gehirn einschalten.“ Er tippt mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand an den Kopf von Petile. Mit der anderen Hand greift er in die brennende Gardine und saugt das Feuer mit seiner Hand förmlich auf. Ich glaube, wir verschwinden schnellstens, ehe du alles noch in Flammen setzt und wir wirklich noch gesehen werden. Wir müssen die restlichen Söhne und Töchter des Lichts noch aufsuchen. Erst dann können wir die nächsten Schritte einleiten.“ Aballa hebt die linke Hand und aus einem schönen großen Ring tritt ein kleiner Rauchfaden heraus, der sich mitten im Raum in ein schiefwinkeliges Viereck verwandelt. Im Mittelpunkt dieser Raute entsteht eine wabernde, rötliche mit weißen Punkten versehene Fläche. Aballa nimmt seinen Lehrling an den Arm und drückt ihn mit sanfter Gewalt in Richtung der rötlichen Fläche. Kaum sind sie hindurchgetreten, löst sich das schiefe Viereck auf. Leichter Brandgeruch liegt in der Luft und die Vorhänge machen auch nicht mehr den besten Eindruck.
*
Lydia fragt lächelnd: „Sie hat dich damit gemeint?“
Cindy stößt mit dem Fuß heftig auf den Boden: „Ja sie hat mich damit gemeint. Außerdem kam Rauch aus dem komischen Anzug, den sie anhatte. Ich hatte wirklich furchtbare Angst und konnte kaum atmen.“
Die Mutter stöhnt: „Um Gotteswillen Rauch? Und- jemand war in deinem Zimmer? Was ist hier los?“
„Nun beruhige dich doch Ruth. Da unsere Tochter hier bei uns sitzt, ist anscheinend nichts passiert. Oder sehe ich das vielleicht falsch?“ Er sieht seine Frau an und bittet sie mit seinen Blicken, nichts mehr zu sagen. Ruth Bergen versteht. Ihr Mann glaubt kein Wort von dem, was Cindy sagt. Sie sagt sich, dass sie es ihm gleichtun und abwarten will, wie weit die Fantasievorstellungen ihrer Tochter reichen.
Cindy fährt fort: „Ja aus dem Anzug kam Rauch, das war ganz merkwürdig. Als die Gestalt die Hand nach mir ausstreckte, kamen sogar kleine Flammen aus dem Ärmel. Als sie mich berührte, war meine Angst aber plötzlich weg.“
Das Gesicht des Vaters überzieht sich mit einem Lächeln, als er sagt: „Dann hat dir diese ominöse Gestalt den Stein geschenkt und ist gegangen.“
„Nein, nein, so war es nicht.“ Sie schaut richtig böse ihren Vater und anschließend die anderen Familienmitglieder an: „Ihr glaubt mir nicht. Keiner glaubt mir.“ Cindy fängt wieder an zu weinen.
„Mein Schatz, das habe ich überhaupt nicht böse gemeint. Sei bitte so gut und erzähle uns, wie es weiter gegangen ist.“ Der Vater schaut seine kleine Tochter liebevoll an und streichelt ihr Gesicht.
Cindy hört auf zu weinen. Sie schluchzt noch ein wenig. Dabei schaut sie ihren Vater dankbar an. Sie liebt ihn sehr und kann nicht verwinden, wenn er sie nicht ernst nimmt. Dem Rest der Familie drängt sich das Gefühl auf, als wenn Cindy wirklich aufrichtig an das glaubt, was sie sagt.
Aufmerksam schaut Cindy jedem ins Gesicht. Alle versuchen, ganz normal auszusehen. Sie scheint zufrieden zu sein und erzählt weiter: „Der Mann, ich glaube, es war ein Mann, berührte mich, sagte also zu mir: Tochter des Lichts, ich habe nach dir gesucht.“
Falk unterdrückt einen Lacher und hustet hinter vorgehaltener Hand.
Cindy schaut ihn misstrauisch an, unterbricht ihre Erzählung und fragt: „Was ist, Falk, glaubst du mir nicht?“
„Ja-, weißt du Cindy, was soll ich sagen.“
Ehe sich die Situation wieder verschärft, schreitet nun die Mutter ein, indem sie ihrer Tochter unmissverständlich sagt: „Cindy erzähle jetzt endlich weiter, damit wir frühstücken können. Kümmere dich nicht um die Reaktionen deiner Geschwister. Erzähle einfach. Los geht’s.“ Sie tippt Cindy leicht auf die Hand.
Cindy redet weiter, weil sie nun das Gefühl hat, dass sie die ungeteilte Aufmerksamkeit der Familie besitzt. „Er sagte mir also, dass er lange nach mir gesucht und den Auftrag hat, mir diesen Stein zu überbringen.“ Sie zeigt auf den Stein, der mittlerweile von Falk wieder auf den Tisch gelegt wurde. Die Gesichter der Familie zucken verdächtig. Das wird diesmal aber nicht von Cindy wahrgenommen. Sie konzentriert sich ganz auf die Darstellung ihrer Erlebnisse: „Dann bekam ich noch einmal einen Schrecken, als ein weiterer Mann auftauchte. Er schimpfte mit dem Mann, der mir den Stein gegeben hatte. Konnte es aber nicht verstehen, was er sagte. Als er merkte, dass ich ihn ängstlich ansah, streichelte er mit seiner Hand über meinen Kopf und sagte, dass ich keine Angst zu haben brauchte. In den nächsten Tagen wollen sie wiederkommen und mir sagen, was ich zu tun habe. Ich hätte eine große Aufgabe zu erledigen und mein Bruder Falk auch.“ Bei den letzten Worten sieht sie ganz intensiv Falk an.
Falk fühlt sich nicht ganz wohl in seiner Haut. Er hat so ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Er kennt seine kleine Schwester und ist fast davon überzeugt, dass sie nicht lügt. Wenn er jedoch betrachtet, das, was ihm passiert ist, dann allerdings müsste dieses Gefühl falsch sein, denn er hat den Stein unzweifelhaft gefunden. Hat sogar danach gesucht, als er ihn durch die Auseinandersetzung mit den türkischen Jungs verloren hatte. Er fragt sich aber, ob man so eine Geschichte überhaupt erfinden kann. Cindy hat zwar eine blühende Fantasie, jedoch was sie hier erzählt hat, Mann oh Mann ... Seine Gedankengänge werden unterbrochen. Er konzentriert sich wieder auf seine unmittelbare Umgebung. Sein Blick erwidert den seiner Schwester. Man merkt Falk an, dass ihm nicht ganz wohl ist, als er sagt: „Also Cindy das ist alles sehr spannend ...“ Seine Mutter hustet und will ihn unterbrechen. Er blickt zu ihr herüber und bittet sie, ihn ausreden zu lassen. Ruth Bergen legt sich zurück und schaut ihren Mann an, der ihr kaum merkbar zunickt. Seine Schwester Lydia grinst ihn an, so als wollte sie ihm sagen, jetzt schau mal wie du da herauskommst Bruder. „Also Cindy“, wiederholt er, „deine Geschichte ist so spannend, dass ich sie dir abkaufe. Und damit du dich an sie erinnern kannst, sollst du auch diesen Stein haben. Glaube mir aber auch, dass ich ihn gefunden habe. Wie er dir dann geschenkt werden konnte, bleibt wohl ein Geheimnis. Viel Glück und Spaß. Wenn du ihn eines Tages nicht mehr haben willst, kannst du ihn mir ja geben, in Ordnung?“
Cindy ruft ihm strahlend zu: „Schön, dass du mir glaubst, Falk. Danke.“ Voller Freude greift sie nach dem Stein. Als Falk bemerkt, dass anscheinend auch seiner Schwester der Stein in die Hand hüpft, fasst er sich an den Kopf. Sein Vater will noch etwas sagen, wird aber diesmal von seiner Frau mit entsprechenden Blicken daran gehindert. Langsam ändert sich die Stimmung wieder an dem Frühstückstisch.
Felix Bergen merkt sehr wohl, dass Falk über seinen Schatten gesprungen ist. Er glaubt ihm. Es war einfach zu schlüssig, was er erzählt hat. Allerdings, das macht ihn ein wenig nachdenklich, hat Cindy zwar eine unglaubliche Geschichte erzählt, diese aber mit vollster Überzeugung. Er ist schon ein wenig stolz auf seinen Sohn. Er ist mit 16 Jahren doch schon sehr weit. Der Stein ist auch wirklich schön. Die getroffene Entscheidung muss Falk wehgetan haben. Er steht auf und beim Gang in die Küche, geht er an Falk vorbei, fasst ihn von hinten an seine beiden Schultern, drückt fest zu. Beim Weitergehen schlägt er ihm noch leicht auf den Rücken.
Falk blickt kurz über die Schulter und weiß, was sein Vater ihm damit sagen will. Ein klein wenig kann er sich jetzt wieder freuen. Aus den Augenwinkeln kann er erkennen, dass seine Mutter ihn ebenfalls liebevoll ansieht. Er denkt sich, so kann auch ein Verlust ein klein wenig Freude geben. Er atmet tief durch und widmet sich wieder dem Essen.
3
Feuerschwimmer
„Ach wie schön, endlich wieder normale Temperaturen.“ Petile zieht schnell die dicke Jacke und Hose aus. Darunter kommt ein eng anliegendes, anthrazitfarbenes mit vielen Taschen besetztes uniformähnliches Kleidungsstück zum Vorschein, an dem sich die weite Kapuze befindet.
Aballa tut es ihm gleich. Nur macht er dies mit viel mehr Ruhe und Gelassenheit. Die Raute hinter ihnen verschwindet wieder in seinem Ring. Aus der Kleidung der beiden kleinen Gestalten züngeln Flammen am Hals und an den Ärmeln heraus. Als Petile seinen Ärmel ein wenig nach oben schiebt, kann man erkennen, dass winzige Flämmchen die Haut bedecken. Die Oberfläche ihrer Körper wird somit in seiner Gesamtheit damit bedeckt sein. Die Hände und Gesichter sehen jedoch bis auf die glühenden Augen normal aus.
Mit tiefen Seufzern der Zufriedenheit begrüßen die beiden seltsamen Personen die hohen Temperaturen. Mit ihren lodernden Feuerblicken, die aus dem Dunkel der übergeworfenen Kapuzen heraustreten, entsteht eine besondere geheimnisvolle magische Stimmung. Sie blicken auf die zu ihren Füßen liegende wilde, atemberaubende Landschaft. Sie befinden sich auf einem Plateau am Rande einer Bergkette. Das Gelände vor ihnen fällt steil ab.
Aballa hebt seine Hand und hält sie vor das Gesicht. Er murmelt einige unverständliche Sätze. Petile, dem man sichtlich anmerkt, dass er sich freut, wieder in der vertrauten Umgebung zu sein, blickt erwartungsvoll in Richtung Felswand. Nach einigen Augenblicken kann man ein Scheppern und Rasseln vernehmen, welches von den steilen Hängen der Bergwelt zurückgeworfen wird. Aus dem Schatten des Felsvorsprungs am Ende des Plateaus schiebt sich langsam ein blitzendes längliches riesiges Ei. Die Spitze des Eies zeigt nach hinten. Unter dem merkwürdigen Gerät befinden sich silbern blinkende, etwa 3,50 m lange Beine. Die ganze Mechanik liegt offen. Die Beine sind aus einzelnen Stangen zusammengesetzt, an deren Enden Füße angebracht sind, die etwa 50 cm lang und 30 cm breit sind. Zwanzig Beine sind paarweise hintereinander, in einem jeweiligen Abstand von 2 Metern, angeordnet. Das Ei bewegt sich auf diesen Beinen mit lautem Gerassel auf die beiden Gestalten zu. Alles in allem, mit den Überhängen vorn und hinten, ist das Ei etwa 20 m lang und 6 m breit. Die Beine bewegen sich wie Soldaten im Gleichschritt. Die metallenen Geräusche rühren von den Beinen her. Mit einem eleganten Bogen nähert sich das merkwürdige Gefährt und hält direkt vor ihnen. Eine Klappe öffnet sich in der Eierschale und eine Rampe fährt aus.
Petile will mit einem Sprung auf die Rampe springen. Ein Hüsteln hält ihn jedoch ab. Er hält in seiner Bewegung inne. Sein Blick wendet sich zurück und seine Augen treffen auf die von Aballa. Dann stottert er: „Mei …, Meister ich bitte um Entschuldigung“ und fügt an, „wirklich.“
Der hebt nur müde beide Hände, winkt ab und stöhnt: „Was habe ich mir da nur eingefangen mit dir? Wenn dir Höflichkeit beigebracht wurde, dann hast du mindestens dreimal weggehört. Wenn dein Vater nicht mein Bruder gewesen wäre, dann hätte ...“ Aballa schweigt. Er geht an Petile vorbei und stellt sich auf die Rampe. Ein Laufband befördert ihn zur Öffnung in dem Ei. Auf dem halben Wege zur Öffnung bleibt das Band jedoch stehen. Aballa steht die Hände über der Brust verschränkt auf der Mitte der Rampe. Petile hält die Hand vor den Mund und kichert in sich hinein.
„Glaub nur nicht, dass ich das nicht gehört habe Petile“, sagt Aballa mit unbewegter Miene.
In der Öffnung des Eies erscheint eine Gestalt, die mit einem feinen Umhang in lila Farbe eingehüllt ist. Ihre Augen strahlen leicht gelblich. Im Gegensatz zu den beiden männlichen Wesen ist in ihren Augen kein Feuer zu bemerken. Auch ist ihr Körper nicht in Flammen eingehüllt. Sie ruft aufgeregt: „Guter Onkel, leider funktioniert das Band nicht. Es tut mir leid. Ich habe schon eine ganze Zeit Probleme damit. Ich bekomme es einfach nicht hin.“
Aballa bekommt beim Anblick seiner Nichte, glänzende Augen. Man kann seine Freude daran erkennen, dass die Flammen aus seinen Augen ein wenig weiter heraustreten. Er geht auf sie zu und schließt sie in seine Arme und murmelt: „Ich freue mich Gisella, dass du uns abholst. Mach dir keine Sorgen wegen des albernen Bandes, das werden wir schon wieder hinkriegen. Außerdem können wir unsere Beine für die Fortbewegung einsetzen.“ Er dreht sich herum und ruft: „Petile komm jetzt oder willst du hier Wurzeln schlagen? Hör mit dem Kichern auf!“
Petile springt auf den ausgefahrenen Steg und hastet an seiner Schwester und seinem Onkel vorbei. Er schlägt im Vorbeilaufen seiner Schwester leicht auf die Schulter: „Hallo Schwesterlein, hast du alles wieder kaputtgemacht?“ Er lacht und läuft schnell in das Ei hinein. Onkel und Nichte kommen hinterher. Die Rampe fährt ein. Die Tür schließt sich. Rasselnd beginnen die zehn Beinpaare einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Das Plateau ist umgeben von hohen Felsen. Ein kleiner Durchbruch mündet in einem schmalen und sehr steilen Weg. Eher ein schmaler Pfad, auf dem sich sogar eine Gams vorsichtig bewegen würde. Das merkwürdige Gefährt erreicht recht schnell diesen Durchlass und die metallenen Beine betreten den schmalen Pfad, der hinunter ins Tal führt. Das Rasseln der Beine und das Poltern der metallenen Füße ist im geräumigen Innenraum des silbernen Eies kaum wahrzunehmen. Auch die Unebenheiten im Felsgestein werden überwiegend durch die Laufwerkskonstruktion so ausgeglichen, dass kaum eine Erschütterung spürbar wird. Nachdem sie den Felsvorsprung passiert hatten, hat das silberne Ei, auf dem steilen Weg schon eine ordentliche Strecke hinter sich gebracht. Eigentlich passen Größe des Vehikels und schmaler Pfad nicht zusammen. Auf der rechten Seite streift die Außenhülle hin und wieder kleine hervorstehende Felsspitzen. Die linke Seite jedoch schwebt frei über dem Abgrund, während die Füße des linken Laufwerks haargenau an der Kante zum Abgrund aufsetzen. Hin und wieder brechen kleine Gesteinsbrocken aus dem Felsboden heraus und poltern den Steilhang hinunter. Keinen der drei Insassen scheint das jedoch nervös zu machen.
Sie unterhalten sich angeregt. Gisella ist sehr neugierig und will wissen, was passiert ist. Petile erzählt ihr, wie er der Tochter des Lichts den Stein überreicht hat und was das für Probleme in ihrer Familie verursacht hat. Aballa hört schmunzelnd zu, ohne jedoch einen Kommentar abzugeben.
Die kleinen Luken bieten einen atemberaubenden Ausblick. Weit unter ihnen ziehen feurige Flüsse ihre Bahn. Der Himmel ist bläulich, rötlich gefärbt. Die Bergwelt geht nach einiger Zeit in eine hügelige Landschaft über. Dichte oder zusammenhängende Wälder sind nicht zu erkennen, dafür aber einzelne oder in kleinen Gruppen stehende riesige Bäume.
Bequem sitzen sie in Sesseln, die aus einem Wohnzimmer stammen könnten. Den Bezugsstoffen der Sessel, wie übrigens auch der Bekleidung, machen die Flammen, die Aballa und Petile aus den Ärmeln, Kragen oder Hosenbeinen züngeln nichts aus.
Im Feuerland
Gisella kocht in der kleinen Küche ein teeähnliches Getränk. Kurze Zeit später schenkt sie ihrem Onkel und Bruder ein. Es duftet stark nach einem Mix aus Honig, Salbei und Birne. Das anschließende Schlürfen und das behagliche Brummen der beiden bestätigt Gisella, dass sie die richtige Mischung getroffen hat. …